„Plädoyer für gemeinsames Essen und Geniessen“
Claudio hat einen Blog-Eintrag verfasst, der bei mir geradezu eine Explosion von Gedanken ausgelöst hat. Seinen Kommentar-Briefkasten wollte ich nicht sprengen, aber Luft muss ich mir wirklich mal machen. Zumal einmal mehr der Ausdruck „Jugend von heute“ im Raum stand.
Ja, ja, die Jugend von heute (waren wir auch mal!)…
Für uns fand anno 1975 in Bern eine kleine Revolution statt, als wir, genüsslich an einer Brat-wurst kauend, während des Abendverkaufs durch die Stadt schlenderten. Fast fühlten wir uns etwas verrucht. Und 1979 fuhren wir mit dem VW-Bus zu fünft von Solothurn nach Genf, übernachteten auf einem Parkplatz und mampften tatsächlich beim ersten grossen, gelben M der Schweiz genüsslich (tja!) einen Big-sowieso und schlürften dazu eisgekühltes Cola aus dem Pappbecher. Dem zuhause gebliebenen Kollegen wurde dann ein Pamp-Exemplar mitgebracht, zum Aufwärmen im Backofen (Mikrowelle gab’s noch nicht für jeden)…
Jugendsünden, die mich manchmal arg erschauern lassen…
Stellt sich die Frage, ob unsere Generation damals irgendwie „falsch abgebogen“ ist?
… die Jugend von damals (öhm, wir?)
– trägt einerseits dazu bei, dass die Jugend von heute solche „Verpflegungsmöglichkeiten“ überhaupt zur Verfügung hat und verdient ganz schön dabei. Alternative Möglichkeiten werden als schräg angesehen.
– is(s)t andererseits ja auch ein tolles Vorbild, nicht?
Frühstück im Auto oder der S-Bahn in Form eines Energieriegels und eines Coffee-to-go. Schliesslich benötigen Make-Up und die Wahl des richtigen Outfits einiges an Zeit. Und während des Genusses wird noch rasch die Mailbox auf dem Smartphone gecheckt. Bloss 35 Minuten Mittagspause… Abends will, muss, darf ich ja ins Fitnesscenter, die Fortbildung oder länger im Büro bleiben. Dann geniessen wir halt einen Business-Lunch mit öligen Pizzas vom Kurier und arbeiten dazu.
Grösser! Schneller! Billiger! – Besser?
Ja, wir, die Jugendlichen von damals und vorgestern, wir sind stolz auf unsere multitasking-fähige Super-Schnell-Gesellschaft! Wer da nicht mithält, ist entweder altmodisch, langsam, einfach nur blöd oder vielleicht zu alt. OK, da gäbe es ja dann auch noch die alternaiven Aussteiger, aber die sind ja eben… sowieso… und überhaupt.
Telefonisch ständig erreichbar – Mist, in der Schule sollte ich nicht, dann mach ich’s halt in der Kurz-Mittagspause – während der Nahrungsaufnahme; schöne neue Multimedia-Welt.
Und am Abend, beim Ausgehen mit Freunden, sind wir Jugendlichen von damals ja super. Als Erstes legen wir unser Handy (nicht zum Essen fotografieren) auf den Tisch. Wir könnten ja eine SMS oder einen Anruf verpassen. Der Tischpartner gegenüber kann ja zuhören, wie ich mein wahnsinnig wichtiges Gespräch zu Ende führe. Übrigens:
Die Wichtigkeit einer Person verhält sich umgekehrt proportional zu ihrer Erreichbarkeit!
„Dubiose Sachen reinschaufeln„ ist genau der richtige Ausdruck. Bloss, sind es nicht die Jugendlichen von heute, die von den Jugendlichen von damals lernen, dass Essen nichts kosten darf, auch keine Zeit?
Wieviele Jugendliche von damals kochen oder ernähren sich wenigstens saisongerecht (wäre übrigens auch günstiger) oder – um mal wohl oder übel einen Grossverteiler zu zitieren – aus der Region und umweltbewusst? Wieviele Jugendliche von damals kochen überhaupt noch regelmässig für sich und/oder die Familie?
Keine Zeit? Oh – dann nehmen wir halt schnell, schnell eine Fertig-Lasagne für die Kleinen und mich, Püree aus dem Glas für das Baby und der/die Partner/in kann sich ja was aufwärmen, denn gleich kommt diese wahnsinnig aufregende Sendung bei RTL.
Wir essen halt nicht alle zur selben Zeit…
Übrigens, die Unterrichtszeiten sind ja häufig (wenigstens in der Schweiz) so angelegt, dass alle Familienmitglieder mittags zeitlich gestaffelt an den Mittagstisch kommen (und gehen) dürfen.
Ach ja, in einigen Schulen wurde der Hauswirtschafts- und Kochunterricht gestrichen – ist ja etwa gleich sinnvoll wie Musik- und Werk-Unterricht, also weg damit! Das haben nicht die Jugendlichen von heute entschieden.
Welche Jugendlichen von damals wollen nicht immer andauernd alles zur Verfügung haben, sprich die 24-Std-12-Monate-Gratis-rund-um-die-Welt-Gesellschaft?
Riesensteaks aus Deutschland, Äpfel aus Argentinen (dafür halt im Juli, toll, gell!), Paprika und Tomaten im Februar aus Spanien, Erbsen aus Marokko im Januar. Und dann alles auch noch ganz schön billig! Dumm nur, dass die Steaks zu Schuhsohlen schrumpfen und die Tomaten keinen Geschmack haben.
Katzenjammer über falsche Bio-Eier, spezielle Lasagnefüllungen und das immer wiederkehrende Geschrei über Gammelfleisch, Gurken-Sprossen-Viren, Rinderwahnsinn (ach ja, ist ja schon gar lange her und weshalb war das auch schon wieder…?) wird immer von den Jugendlichen von gestern angestimmt. Es ist halt schon ganz schön einfach, auf jemand anders zu zeigen, als sich selbst an der Nase zu nehmen.
Wie beim Littering! Ich kenne einige betagtere Jugendliche von heute, welche es nicht für nötig halten, einen Abfallkorb zu suchen, dafür gibt es ja Strassen, Gehweg, Vorgärten, Wiesen und Seen. Grundsätzlich schützt halt Alter vor Anstand nicht.
Die Jugendlichen von heute werden von den Jugendlichen von damals erzogen!
Jeder will und muss mehr verdienen, gleichzeitig aber sollte das Ganze ja nicht so teuer sein. Der Tamile, die Serbin, die Türkin, der Marokkaner in der Küche, die sollen dann halt etwas weniger verdienen – ist ja auch keine richtig wichtige Arbeit. Und überhaupt, ein Handwerker oder Koch, der macht ja bloss eine drei- bis vierjährige Lehre. Das ist doch nicht so viel wert wie das Wissen einer Bankkauffrau. Die ist im Stress – muss ja schliesslich Geld verdienen – hat also erst wieder Zeit, ins Luxusrestaurant essen zu gehen, wenn der Bonus reinkommt (dafür rackert sie sich dann ein paar Jahre ab und isst, trinkt und raucht unterwegs).
OK, wenn aus dem Koch etwas Anständiges wird, dann wird er Sternekoch, macht lafermässig viel Geld und viel Fernsehsendungen, die sich Menschen anschauen, die dazu Chips mampfen, keine Zeit haben und alles zu aufwändig finden, währenddessen die Kinder die Playstation quälen.
Sollte uns das Essen von heute so viel wert sein wie vor 50 Jahren – dann würde eine Tasse Kaffee in der Schweiz zwischen zwölf und sechzehn Franken oder neun bis dreizehn Euro kosten.
Womit wir dann bei der Gegenströmung angekommen sind:
Kaviar – lacht nicht, ich kenne Menschen, die noch nicht 25 sind und regelmässig welchen „geniessen“, GottseiDank gibt es sprudeligen Rebensaft zum Runterspülen; Kaffee superdeluxe, Frischkäse aus Hinterindien, Wurst vom Rio Urubamba, Früchte aus der westlichen Arktis und Exotenfleisch. Weshalb wohl haben die „Luxus-Linien“ der Grossverteiler mit ihren Food-Geschichten mindestens so viel Erfolg wie ihre Billiglinien? Plakativ ausgedrückt: vielleicht ein Spieglein der Zwei-Klassen-Gesellschaft?
Ach, ich könnte jetzt den Faden noch ewig weiterspinnen und vielleicht erkennen, dass die Möglichkeit, Betty Bossis vorgefertigtes Essen zu geniessen, genau so wichtig für den gestressten Hausmann ist wie die Waschmaschinenerfindung für Tante Trudi vor -zig Jahren.
Vielleicht wird man mir vorwerfen, ich sei ein hoffnungsloser Nostalgiker oder wolle die Frauen zurück an den Herd schicken. Aber ich, ich hasste den Hauswirtschaftsunterricht von ganzem Herzen, insbesondere mit dem Wissen darum, dass unsere männlichen Jugendlichen von damals gleichzeitig Medienkunde hatten. Will ich, als kinderlose Frau, mir anmassen, Müttern und Vätern, den gestrigen wie den heutigen und allen dazwischen, vorzuschreiben, wie sie sich zu organisieren haben? Oder bloss mal über die Entwicklung unserer Gesellschaft nachdenken?
„Wenn wir wieder mehr an den Familientisch zurückkehren würden, hätten wir auf dieser Welt wohl einige Problem weniger!“
meinte ein Sterne- und Naturkoch bei meiner Ausbildung zur Cocolino-Fachberaterin. Das polarisierte und löste einige Diskussionen aus – an einem Mittagstisch!
Was, wenn wir alle uns wieder mehr Zeit für gemeinsames Kochen und Essen nehmen könnten?
„I have a dream“, meinte ein grosser Mensch vor 50 Jahren.
Ich bin nicht gross, aber auch ich habe einen Traum, jetzt:
Ich träume von einer Welt, in der gleichberechtigte Partner für Kinder, Eltern, Freunde, Nachbarn kochen. Und alle miteinander kochen, essen und geniessen. Und diskutieren, schweigen, trinken, sich freuen und streiten, um sich anschliessend wieder zu versöhnen, bei Tisch! Dass sich die Welt nicht immer nur zum Bankett trifft, wenn mehr oder weniger erfolgreich Verhandlungen und Verträge abgeschlossen wurden, sondern vor und während der Verhandlungen gemeinsam gegessen wird. Weil die Kultur des Essens doch so viel über den Partner aufzeigt. Vielleicht verstehe ich ihn dann ein klein wenig besser.
Zusammen kochen lässt wundervolle Gespräche fliessen, Gemeinsamkeiten, Trennendes und Neues entdecken, neue Chancen erkennen. Ich stelle mir vor, wie über Angebranntes und nicht so Gelungenes geflucht, gestritten und wieder gelacht wird, um es gemeinsam nochmals anzugehen. Ich stelle mir vor, wie wir voneinander lernen können – in jeder Hinsicht!
Ich träume von Restaurants, in denen den Kindern kein Goofy-, Ninja- oder Hello Kitty- sondern ein „Kleiner Gourmet“-Teller angeboten wird.
Ich träume von Märkten, die nicht nur am Samstag stattfinden; von Produzenten, die stolz sind auf ihre Produkte, sie selber essen und dem Kunden den einen oder anderen Tipp mitgeben.
Ich träume davon, dass BIO weder ein Label ist, noch zum Schimpfwort mutiert; dass es ganz einfach normal, alltäglich und selbstverständlich ist.
Ich träume von glücklichem Feder- und Rindvieh; von Milch, die den Geschmack der Wiese in sich trägt und von Wildkräutern und -früchten, die noch zu entdecken und geniessen sind; von Pilzen, deren Nachname nicht Tschernobyl ist und von Wasser, das schmeckt wie unser Quellwasser hinter dem Haus.
Ich träume von Wohnungen und Häusern, die ein Zuhause sind, in dem gemeinsam geplant, gekocht und gegessen wird.
Architekten dieser Welt, plant wieder richtig schöne grosse Wohnküchen, mit Arbeitsflächen die ihren Namen verdienen!
Designer dieser Welt, entwickelt nicht Klapptische sondern richtig tolle, grosse und schöne Tische zum Essen und Geniessen, ja, zum Leben!
Eltern dieser Welt, entdeckt gemeinsam mit Euren Kindern das Wunder des Kochens, der Gewürze und der Sonntagsspaziergang durch Wald und Wiese wird zur Shoppingtour der dritten Art.
Köche dieser Welt, zeigt was ihr könnt und führt Eure Gäste in Euer Reich, sie bleiben nicht weg, weil sie wissen wie’s geht – sie kommen wieder um Eure Perfektion zu geniessen!
Food-Blogger dieser Welt, hört nicht auf zu schreiben, zu fotografieren, zu pröbeln, zu entdecken, Euch zu ärgern und zu freuen. Das ist, wie so oft, das Fleur de Sel dieser Weltsuppe!
Danke an Claudio von die Anonymen Köche für den Gedankenanstoss!
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